Autorenportrait

Neue Osnabrücker Zeitung vom 5.5.2001:

Pädagoge schreibt über Kinder in der Dritten Welt

Vom Lesen zum Handeln

Wenn die Nachbarn den vollbepackten Rucksack sehen, wissen sie Bescheid:
Hans-Martin Große-Oetringhaus begibt sich wieder auf eine Lesereise. Nicht nur Bücher, sondern auch Dias, Fotos und Spielzeug verbergen sich in dem Gepäck.
Wie Kinder in der Dritten Welt leben und ihr Schicksal meistern, ist das Thema in seinen inzwischen mehr als 50 Büchern. Zunächst stand die Wissenschaft im Mittelpunkt:

Foto: Marscha Glauch

Zehn Jahre lehrte Hans-Martin Große-Oetringhaus an der Universität in Münster die Pädagogik der Dritten Welt. Er schrieb 1977 eine Doktorarbeit über das Schulsystem der schwarzen Bevölkerung in Südafrika und fand, dass das Thema auch deutsche Schüler interessieren könnte. Dafür musste er aber eine andere, spannendere Form finden: Unter dem Titel „Wird Feuer ausbrechen?“ erschien 1980 bei rororo rotfuchs sein Roman über den Schüleraufstand in Südafrika.

Über das Schreiben kam er auch zum Kinderhilfswerk terre des hommes (tdh): 1984 begann er seine Arbeit bei tdh in Osnabrück und begleitete Aktionen in Asien, Afrika und Südamerika. Wenn er nicht für tdh in Osnabrück arbeitet oder auf Dienstreise ist, setzt er sich abends, nachts oder am Wochenende an den Schreibtisch und schreibt seine Geschichten mit der Hand vor. Bei der Arbeit am Computer kann er sich später in Notfällen auf die Unterstützung seiner 14 und 16 Jahre alten Söhne verlassen, die ihm auch seine Homepage gebastelt haben (www.Grosse-Oetringhaus.de).

Seine Bücher liest er seinen jungen Zuhörern nicht nur vor: Manchmal schlüpfen die Kinder und Jugendlichen in die Rolle seiner Buchhelden, verkleiden sich, bekommen das selbst gebastelte Spielzeug von Kindern aus Kambodscha, den Philippinen oder Peru in die Hand. Sie sehen zum ersten Mal in ihrem Leben Kokablätter, wenn sie Passagen aus dem Buch „Kokaspur“ gehört haben und begreifen im wahrsten Sinne des Wortes die fremde Welt.

Neben Kinder- und Jugendbüchern hat Große-Oetringhaus auch über sein Heimatdorf, das jetzt ein Ortsteil der Stadt Unna ist, sowie über die Stadt Duisburg, in der er mit seiner Familie lebt, Romane geschrieben. Über den Duisburger Hafen, den größten Binnenhafen Europas, wird ebenfalls ein Buch erscheinen, für das der Autor ungewöhnliche Berichterstatter wählte: Aus der Sicht einer Rattendynastie werden die Wechselfälle des Hafens geschildert.

„Dokumentarische Romane“ nennt Hans-Martin Große-Oetringhaus seine Bücher, die häufig das Leben wirklich existierender Personen erzählen. Als er den Schulalltag der Kinder Nini und Pailat in Papua-Neuguinea fotografierte, fanden Schüler und Lehrer eines Morgens eine kurz und klein gehauene Schule vor. Dieser Vorfall lieferte eine spannende Detektivgeschichte, denn alle machten sich auf die Suche nach dem Täter („Nini und Pailat“, Lamuv Verlag, ab 8 Jahren). Die Beschreibung der Armut, Ehrlichkeit und des Zusammenhalts sind seine persönlichen Maßstäbe, nach denen der Pädagoge Kinder- und Jugendbücher beurteilt.

Auf seinen Lesungen fragen ihn die Zuhörer oft recht ungläubig, ob ihn die ständige Auseinandersetzung mit den Problemen der Kinder in den armen Ländern der Erde vor Ort, am Arbeitsplatz und am Schreibtisch zu Hause nicht „runterziehe“. „Im Gegenteil“, antwortet Hans-Martin Große-Oetringhaus dann immer: Er bewundert die Kinder, die sich trotz ihres schweren Schicksals in Hilfsprojekten engagieren und einen Funken ihrer Kraft auf ihn und hoffentlich auch auf Kinder und Jugendliche in Deutschland überspringen lassen: „Vom Lesen zum Handeln“ heißt deshalb sein Anliegen, das sich in der Aktion Schülersolidarität und in den Kinderrechtsteams von terre des hommes widerspiegelt.

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Manch ein Vater oder Mutter ist ja schon froh, wenn der Nachwuchs überhaupt ein Buch liest. Soll man den Kindern dann auch noch Bücher über die Probleme der sogenannten Dritten Welt zumuten? Hans-Martin Große-Oetringhaus schreibt über das Schicksal von Kindern in den Entwicklungsländern. Er setzt auf eine Mischung aus Spannung und Information, die bei Jugendlichen nicht nur Interesse, sondern auch den Wunsch zu helfen weckt.

„Dass ich Pädagoge bin, können meine Bücher nicht verheimlichen, das wollen sie auch gar nicht“ – die Bücher von Hans-Martin Große-Oetringhaus haben alle das gleiche Thema, nämlich die Situation von Kindern in den Ländern, die man gern herablassend „Dritte Welt“ nennt. Kinder, die auf einer Müllhalde von Manila nach verwertbaren Abfällen suchen, anstatt zur Schule zu gehen; Kinder, die Tag für Tag Teppiche knüpfen, die Zeitungen, Bonbons und Kaugummis verkaufen; Kinder, ohne deren Arbeitskraft und kleines Einkommen oft genug die Familie verhungern müsste – ihr Schicksal den Kindern hier nahezubringen, den Altersgenossen im reichen Industrieland Deutschland aber auch zu zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem hiesigen Reichtum und der dortigen Armut gibt, ist Absicht der Bücher von Hans-Martin Große-Oetringhaus.

„Ich will nicht nur Unterhaltung bieten, sondern auch ein Stück politische Arbeit leisten.“ Das bedeutet, dass seine Bücher wissenschaftlich fundiert und gut recherchiert sind, was nicht gleichbedeutend ist mit langweilig. Denn die größte Spannung, das ist für Große-Oetringhaus klar, liegt in den Geschichten selbst, die alle auf der Wirklichkeit beruhen.

Da gibt es „Das Geheimnis der roten Maschine“, einen „entwicklungspolitischen Kriminalfall“. … Seinen jungen Lesern vermitteln, dass es nicht immer gleich detektivischer Fähigkeiten bedarf, um etwas für eine Änderung ungerechter Verhältnisse zu tun, ist eines der Anliegen von Große-Oetringhaus. Deshalb gibt es zu jedem Buch ein Nachwort, das weitere Informationen zu dem behandelten Land, Adressen von Gruppen, bei denen man mitarbeiten kann, und Vorschläge für Solidaritätsarbeit gibt. … Nach der Lektüre solle die Auseinandersetzung mit dem Thema weitergehen.

Das ist meistens auch der Fall, werden doch die Bücher von Große-Oetringhaus vor allem in Schulklassen oder Jugendgruppen gelesen. Es sind – da hat der Autor keine Illusion – nicht die Kinder und Jugendlichen, die seine Bücher kaufen, sondern Lehrer, fortschrittliche Pädagogen und Eltern. Für die Nacharbeit gibt es dann auch weitere Materialien, die Große-Oetringhaus bei terre des hommes, wo er als Medienpädagoge tätig ist, erstellt hat.

Für das Kinderhilfswerk hat der Diplompädagoge, der ein Lehrerstudium absolviert und lange Jahre einen Lehrauftrag für Pädagogik der Dritten Welt an der Universität Münster wahrgenommen hat, auch einige Reisen in Entwicklungsländer unternommen. Daraus sind wiederum Bücher hervorgegangen. Schon vor seiner Arbeit für terre des hommes hat er Reisen nach Afrika, Asien und Lateinamerika gemacht. Dabei lernte er die Realität von Ausbeutung, Unterdrückung, Hunger, Wohnungsnot, Krankheit und Krieg kennen, die ein Kinderleben in dieser Region meist prägen. Aber da gibt es auch die andere Seite, die trotz dieser Lebensumstände existiert. Diese Kinder sind aktiv und kreativ, sie haben Phantasie, wenn es darum geht, mit den Widrigkeiten des Alltags fertig zu werden, und sie entwickeln Solidarität, die ihnen in Schwierigkeiten weiterhilft.

„Meine Leserinnen und Leser sollen spüren, dass ich nichts Erfundenes erzähle“, sagt Hans-Martin Große-Oetringhaus. Erfunden sind auch nicht die Bücher über Südafrika, die Große-Oetringhaus geschrieben hat, obwohl er nie dort war. Sein erstes Buch, der dokumentarische Roman über den Schüleraufstand von Soweto 1976 „Wird Feuer ausbrechen?“, war aus seiner Dissertation entstanden. Thema war das Bildungssystem der „nichtweißen“ Bevölkerungsgruppen in dem Apartheidsstaat. Die Mitarbeit in der Informationsstelle Südliches Afrika (Bonn) hatte ihm über Jahre hinweg viele Kontakte mit schwarzen Südafrikanern gebracht. Und damit auch die notwendigen Informationen, die im Land selbst oft nur schwer zu bekommen sind. Aber diese Arbeit brachte ihm auch das Misstrauen der südafrikanischen Regierung ein. Als er nachträglich das Land kennen lernen wollte, erteilte man ihm kein Visum. Erst später erfuhr er, dass bei den südafrikanischen Behörden ein ganzes Dossier mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu dem Land angelegt worden war.

Nicht immer tragen die Figuren in Büchern von Große-Oetringhaus die Namen der realen Personen. Wenn sie in Bürgerbewegungen, Bauernkomitees oder Stadtteilvertretungen mitarbeiten, könnte die Nennung ihres Namens sie gefährden. Richtige Namen tragen nur die Toten und die Täter. Der Autor legt Wert darauf, die Verantwortlichen für Ungerechtigkeit, Misshandlungen und Ausbeutung zu benennen, wenn sie ihm bekannt sind. Auch das ein Stück Authentizität, das das Interesse von Jugendlichen fesselt.

Seine Kinder sprächen wie Erwachsene, hat man ihm schon vorgeworfen. Aber die Sprache stimmt, weil diese Kinder wie Erwachsene leben müssen, weil ihnen das Kindsein, die Sprache des Spielens und des langsamen Entdeckens ihrer Welt verwehrt wird. Sie werden in die Erwachsenenwelt hineingestoßen, in der sie nur überleben können, wenn sie sich den Spielregeln anpassen.

Können Bücher eines deutschen Autors authentisch über die sogenannte Dritte Welt berichten? „Da kann ich noch so oft nach Afrika reisen, ich sehe immer alles durch die europäische Brille“ – Große-Oetringhaus macht sich nichts vor, sieht aber durchaus die Notwendigkeit und Berechtigung des Schreibens über die Dritte Welt neben der Literatur aus der Dritten Welt. Man sollte beiden Arten von Literatur nicht gegeneinander ausspielen, meint er. Während die wirklich authentischen Bücher in ihrer Kraft und Sprache und Lebendigkeit nicht zu ersetzen seien, seien sie doch oft gerade für Jugendliche nicht leicht zu verstehen. Zu verschieden ist der kulturelle Hintergrund, sind die sozialen Beziehungen, die Bedeutung bestimmter Verhaltensweisen. Deutsche Bücher über die Dritte Welt könnten eine Brückenfunktion wahrnehmen, Jugendliche hinführen zum Verständnis der authentischen Literatur. „Wenn das meine Bücher erreicht hätten, wäre ich stolz“, sagt der Autor.

Interesse und Begeisterung wecken, Empörung und – daraus entstehend – den Wunsch, zu helfen, den Wunsch etwas zu verändern, das gelingt Große-Oetringhaus auch bei seinen zahllosen Lesungen vor allem in Schulen und den Jugendabteilungen von Bibliotheken. Im Gespräch spürt man die Lebendigkeit und die Überzeugungskraft, die wohl dann von ihm ausgehen. Mit einem Rucksack voller Bücher, aber auch mit unzähligen Geschichten im Kopf, mit Dias und Kleinigkeiten aus dem Alltag der Kinder kommt er an. Und er erzählt und liest nicht nur, sondern lernt immer wieder selbst etwas. Die vierten bis sechsten Klassen sind ihm am liebsten, „Die können sich noch richtig empören über die Ungerechtigkeit der Welt, und davon lerne ich, dass man sich diese Fähigkeit erhalten muß.“

Das schreiben, das er in die Zeit zwischen seinem 30-Stunden-Job bei terre des hommes und der Beschäftigung mit seiner Familie – Frau und zwei Kinder – einbaut, ist schon lange keine Nebenbeschäftigung mehr. Die Arbeit beim Kinderhilfswerk dreht sich ja auch ständig um „seine“ Themen, fließt in die Bücher ein und etliche sind auch bei terre des hommes erschienen. Die dort immer wieder eingehenden vielen Briefe und anderen Reaktionen, die Fragen „Was können wir tun? Wie können wir Kontakt aufnehmen, helfen?“ sind in die Aktion Schülersolidarität eingemündet. Schulklassen können Partnerschaften für Projekte knüpfen, die Kindern zugute kommen, wie zum Beispiel den Kleinen Menschen in Peru. Dort haben Kinder, die durch Straßenhandel den Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen, ein Haus, in dem sie sich ausruhen können. Zum Spielen, Malen und Basteln gibt es Material, Medikamente für einige Krankheiten und Verletzungen und nicht zuletzt Schulunterricht, den viele in den offiziellen Schulen schon lange nicht mehr besuchen können. …

All seinen Büchern ist gemein, dass sie vom Wort zur Tat hinführen sollen. Denn „Worte bekommen erst durch die Tat Bedeutung“. Wenn dann deutsche Kinder versuchen, beim Papiertütenkleben oder beim Schuheputzen ein wenig davon zu begreifen, was Kinderarbeit bedeutet, sieht Große-Oetringhaus ein Ziel seiner Arbeit erreicht.

(Lieselotte Wendl)

Vom Drang, über den Tellerrand zu blicken

Immer wieder nehme ich mir vor, alte Bücher auszumisten. Denn woher soll ich sonst Platz für die neuen nehmen? Und jedes Mal kann ich mich dann doch nicht von den alten trennen. Ich nehme sie aus dem Regal, vor allem jene aus meiner Kindheit und Jugend, schlage ein paar Seiten auf, blättere weiter, lese mich fest…und schließlich stelle ich sie dann doch wieder an ihren alten Platz zurück. Und das, obwohl sie wirklich keine literarischen Glanzlichter sind. Aber das Literarische war es auch nicht, was mich als Kind und Jugendlicher an diesen Büchern faszinierte. Es war die Neugierde nach Neuem, nach Abenteuern, die mich von Seite zu Seite trieb.

Noch heute lassen mich bereits Namen und Titel auf den Buchrücken unruhig im Sessel hin und her rutschen: Sven Hedin „Abenteuer in Tibet“, Meno Holst „Durch tausend Abenteuer“, Heinz Helfgen „Ich radle um die Welt“, Willi Wegner „Feuer für Melbourne – Mit dem Fahrrad nach Australien“. Die Schutzumschläge der Bücher sind genauso ausgefranst wie die Kleidung jener, von denen sie berichten. Weltenbummler waren es, Forscher und Abenteurer, über die ich in den Büchern las.

Der Funke der Neugierde sprang über, schwelte lange, bis ich selbst in die Welt zog und später von dem berichtete, was ich dort gesehen, gehört und erlebt hatte. Es waren andere Menschen, andere Länder, über die ich schrieb; andere Fragen, die ich hatte, andere Dinge, die mich interessierten; andere Zusammenhänge, die ich sah. Aber eines war gemeinsam: der Drang, über den eigenen Tellerrand zu blicken, die Neugierde, zu sehen, wie andere leben.